Die achselzuckenden Bösen

Schriftsteller(-hm?:)-kongress in München. Während eine zartbesaitete Kollegin mit furchteinflößend sanfter Stimme davon liest, wie sie als Protagonistin ihrer Ich-erzählten Geschichte ein Baby auf dem Schneidebrett zerlegt, entrüstet sich X über ein Statement von weiblicher Kollegenseite, in dem die Damen vom Fach sich als Hannibal Lecter ist eine FrauenikoneSchreibtischmörderinnen outen. Ist das nicht etwas zu ehrlich? Dass jemand sich damit amüsiert, zumindest virtuell knietief in Blut, Giften und Eingeweiden zu waten, wenn es ihr schon nicht in der realen Welt gestattet ist, diesen Wunsch nach Blutrünstigkeit auszuleben?

Und dann kommen die Menschen, die das Grauen erlebt haben (es gibt in Deutschland wieder Veteranen, und sie haben eine neue Krankheit im Marschgepäck: PTBS - post traumatisches Belastungs Syndrom, Schlafstörungen, Angstzustände, Schweißausbrüche, Hypervigilanz, Reizbarkeit, Wutausbrüche, Konzentrationsschwächen ...), und sind schockiert über die Leichtfertigkeit, mit der menschliche Schicksale durch den literarischen Fleischwolf gedreht werden, verlangen nach Ernsthaftigkeit und haben damit - wie Herr X - natürlich Recht.

Und während sie damit beschäftigt sind, Recht zu haben, und die anderen Unrecht und das Unrecht zu genießen, und die Dritten sich ernsthaft bemühen, Recht und Unrecht sorgsam zu unterscheiden, schlägt irgendwo auf der Welt eine Kugel in einen Menschen ein, der die falsche Hautfarbe hat, ein Auto in ein Kind, das etwas stürmisch über die Straße zum Bus lief, ein Marschflugkörper in ein Haus, das auf einem Öl- oder Gasvorkommen steht. Die Öffentlichkeit schüttelt den Kopf und diskutiert noch, ob es sich um ein Phänomen, einen Unfall oder Fanatismus handelt, während sich unbemerkt der Vorgang etwa hundert Mal wiederholt. Oder tausendfach. Die Schmierblätter berechnen zynisch den BodycountAuflage = Leichen * 15, und der ernsthafte Autor schreibt ein halbes Jahr an dem, was er zuvor über ein weiteres halbes Jahr recherchiert hat, im Bemühen, der Wirkkraft hinter dem ganzen einen Namen zu geben.

Vermeiden wir den Begriff des 'Bösen', denn den haben auch schon die Boulevardblätter abonniert! Aber nach was suchen die Kriminalromane denn dann, wenn nicht nach einer Erklärung? Hand aufs Herz: wenn sie eine Erklärung finden oder fänden, dann schlitterten sie vielleicht mit etwas Glück noch an der Peinlichkeit vorbei, diese beim Namen zu nennen. Jeder, der schon mal einen Kriminalroman las, der Leichenberge häufte, um am Ende einen Pfadfinder als Täter präsentiert zu bekommen: "Er spielt mit uns - Schnitzeljagd mit Bibelzitaten", wer das schale Gefühl kennt, das sich einstellt, wenn Kinder verschwinden und am Ende der Rattenfänger von Hameln selbst in seiner Kindheit ... und deshalb ... ja, oder einen Roman, im dem sich Gut und Schlecht, da nicht durch seine Taten, nurmehr anhand seiner Rangabzeichen und Nationalzugehörigkeit unterscheiden lassen, wird die fruchtlose Suche angewidert aufgegeben haben.

Mit der Frage allerdings auf den Lippen, ob das ganze dann grotesk, unfreiwillig komisch oder tragisch ist. Und der Autor schreibt immer noch ... an seinem traurigen Einzelfall, und findet unter dem kleinen Fingernagel des Mordopfers das rettende Indiz: Ja, es war zweifellos eine Atomwaffe, die diesen dreihunderttausendsten Teil einer humanitären Katastrophe fahrlässig getötet hat. Jetzt legen wir mal das Wurstbrot zur Seite und obduzieren die restliche Viertel Million. Und wenn wir dabei einen Täter finden, dann müssen wir ihn am Ende des Romans ganz sicher laufen lassen, weil das dramaturgisch schicker ist, als den ausgemachten Schurken literarisch abzustrafen. Und wir uns die Frage ersparen, ob da nicht nur wieder ein Popanst aus Papier als Sündenbock herhalten muss, um nicht zuzugeben, dass wir innerlich längst hoffnungslos verroht sind. In der wirklichen Welt.