Der digitale Saurier

Die Anfänge des Internet markieren zwei Arme der sozio-kulturellen Gewaltenteilung: Militär und Bildung. Das Militär hat inzwischen sein eigenes Netz, möglicherweise einmal in früheren Zeiten als autonomes System gedacht, das Intranet der Army?? So flackert wohl das Arpanet wieder auf, und die Universitäten, ursprüngliche Zielgruppe der Vernetzung, haben inzwischen kaum noch was zu sagen. Die Ressourcen jedenfalls, die man zur Arpanetzeit miteinander verknüpfte, standen an den Unis und waren unschlagbar teure, gewaltige Rechenanlagen (Leibniz-Rechenzentrum in München beispielsweise).

Heute können die Spielebetreiber in der weltweiten Datenwolke Cloudressourcen umgekehrt an Forschungseinrichtungen verhosten. Es hat sich einiges geändert. Von der Uni aus log-te man sich seinerzeit auf der Unix-Konsole ein, durfte dann in einem bescheidenen Account Rechenleistung abfragen, die heute ein Handy unterfordert, und wartete nach jedem Auftrag bei einer Tasse Kaffee auf die Nachricht, dass der jeweilige Auftrag ausgeführt, unmöglich oder abgestürzt wäre.

Erinnert man sich noch gut, wie die ersten Spülmittel Aufdrucke von Internetadressen trugen, Zeitungen und Zigarettenschachteln. Man konnte dort zusätzliche Informationen über das Produkt einholen (Der beste Kaffee aller Zeiten kommt aus Costarica. Geniessen Sie die Sorten naturmild, magenschonend oder voll_im_Geschmack) oder wurde auf Gewinnspiele aufmerksam gemacht. Auch das Fernsehen behauptete im Netz seine eigene Existenz. Bunt war nichts daran.

In dieser frühen Phase des Internet war das Web noch eine Goldgrube der Informationsgesellschaft für Bastler und Garagenprogrammierer wie Jobs und Gates und Co. Die Zuckerbergs kamen erst, als das Netz zum ersten Mal auf den Brettern lag und angezählt wurde. Etwa um diese Zeit war es noch schick, html zu lernen und sich was schönes daraus zu stricken. Damals hätte man auch noch eine Bewerbung auf einer Schreibmaschine tippen können, in einen Schnellhefter stecken und persönlich zur Personalabteilung tragen. Heute sucht man nach dem entsprechenden Button auf facebook.

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Heute geht eine Papierbewerbung auf Moms Typewriter wohl nur noch im Garten-Landschaftsbau.

Analog ist das Web2.0 inzwischen modular gebaut wie ein Flachbildfernseher. Drei Bauteile: Empfänger, Schirm, Netzteil. Die Geräte für sich inkompatibel bis an die Schmerzgrenze, lassen nicht zu, dass man im Stil der Stummfilmära eine Röhre von Telefunken in einem Weltempfänger von Siemens verbaut. Man kann sich geradezu religiös für ein Contentmanagementsystem entscheiden und danach dann nur noch Himmel oder Hölle.

Das katholische Gebetbuch und das evangelische mochten sich vor der Ökumene nur in Details unterschieden haben, aber dort bis zum Systemabsturz. Windows gegen Macintosh hätte möglicherweise unter anderen Umständen den dritten Weltkrieg ausgelöst. Jetzt nutzen beide eine Plattform und einer dann noch die Betriebssystembasis eines Dritten. So harmonisch können Wirtschaftskriege enden. Das Web scheint inzwischen nicht nur geglättet, es wirkt auf die mit seinen Anfängen Vertrauten homogenisiert, wenn nicht pasteurisiert und ultrahocherhitzt.

Was dabei heraus kommt, wirkt vielfältig, bunt und animiert, lebendig und in gewisser Weise verblüfft es auch mit dem oberflächlichen Eindruck, chaotisch zu sein. Tatsächlich ist es allerdings schablonierter denn je, wird von Klischees bestimmt und durch Schlagworte dominiert. Es ist inzwischen professionell. Fast schon prostituiert professionell. Und diejenigen, die vordem glaubten, dem Strom avantgardistisch vorne weg zu gehen, müssen inzwischen hinterm roten Licht hinterher laufen.

Wohin geht die Reise? Das würde ich einen Internetgestalter fragen. Doch die mir bekannten wirken inzwischen wie Änderungsschneider für Stangenware. Meistens frustriert über die ewig gleichen Kundenwünsche zur Angleichung eines Musters an ihre eigenen Bedürfnisse mit dem kleinen Extra: ABER INDIVIDUELL. Wird es bald G-X-Treffen zur Bekämpfung der Datenverschmutzung geben? Werden wir netzfreie Sonntage erleben? Wird man ein Verschlüsselungssystem finden, das selbst der Empfänger nicht mehr knacken kann? Werden eiskalte Spartenjäger in den abgeschiedensten Revieren der Welt nach der letzten unveröffentlichten Information suchen, sie ans Licht zerren und teuer verkaufen? Wird es ein U-16 und ein Ü-60 - Netz geben? Werden Cyberbiologen nach der DNS des Web forschen? Und fündig werden in einer aus zwei Aminobausteinen bestehenden flat-Helix? Nullen und Einsen?

Das eigentlich Spannende am Netz scheint jetzt nicht unbedingt seine Beschaffenheit zu sein. Es ist seine rasante Entwicklung. Man sah einem Saurier zu, wie er aus seinem Ei schlüpfte und betrachtete mit Entsetzen und Faszination, wie er um sich her anderes Geviech auffraß. Jetzt ist er so groß, dass der Nahrungsbedarf nur noch zu decken ist, wenn er seinerseits Saurier frisst, die zuvor akkumulierend Geviech zusammen fraßen. Also eigentlich sehen wir der Wiedererweckung der intellektuellen Urzeit zu. Und das gelassen ...