Lügen, nichts als Lügen

In Wirklichkeit war auch das ein groß angelegtes Experiment: Sieps, so hieß der Kerl, nahm sich vor, einen völlig haarsträubenden Sachverhalt zu behaupten. Er wolle davon nie abweichen und diese Erfindung immer weiter als Gegebenheit nehmen, bis seine Umgebung in irgendeiner Form darauf reagiere. Ihm fiel nur kein solcher Sachverhalt ein.

Das Ereignis ging auf den Sportunterricht dieser humanistischen Schule zurück. Dort hatte sich ein Heimkehrer aus dem Weltkrieg als Lehrer installiert. Dieser Lehrer trug einen polnischen Namen. Seiner Statur wegen wurde er allerdings unter den Schülern Dübel genannt. Der Dübel unterrichtete Deutsch und Sport. In beiden Fächern versagte der Lehrer völlig, im Deutschen mit dem Schimmelreiter und im Sport in kurzen Hosen.

Um sich nicht als unsportlich zu exponieren, kleidete sich der Dübel zu Beginn des Unterrichts in diese kurzen Hosen von Adidas und stakste so in die muffige Sporthalle. Das einzige, das ihn als Lehrer auszeichnete, die Pfeife, beulte seine Hose aus. Tatsächlich muss dieses Kleidungsstück aus der Asservate eines geistig behinderten Triebtäters am Gummizug über eine Innentasche verfügt haben, die die Pfeife in seiner Hose wie ein Pestgeschwür an den Lymphen fixierte. Der Dübel konnte nicht anders, als die Aufmerksamkeit von sich zu lenken, denn hätte er die Nützlichkeit des Sports am eigenen Körper zu demonstrieren sich bemüht, er hätte schallendes Gelächter geerntet, oder gar schlimmeres: eine Strafanzeige.

In seinem Sportunterricht wurde daher Völkerball gespielt. Jahre des Völkerballs standen in der ledrig-schwitzigen Muffluft der alten Turnhalle, von deren Decke die Kletterseile moderten und aus deren Ecken faulige Medizinbälle wuchsen wie Morcheln in den düsteren Ecken des Waldes. Völkerball ist ein dämliches Spiel für dämliche Menschen, die Aggressionen los werden oder ertragen wollen. Zwei Parteien bevölkern zwei Spielfelder, gerade klein genug, um sich nicht aus dem Weg gehen zu können, und schleudern einen Ball möglichst immer dem jeweils anderen an den Körper.

Die aggressivsten schleudern ins Gesicht, dann muss der Dübel seine Pfeife ziehen und weil er sie nicht schnell genug aus seinem hautengen Suit gezückt bekommt, hilft nur ein mahnendes Wort, dass der Getroffene (Ja, ja, es hat keiner Schuld) sein Gesicht unters Wasser halten soll. Der ist dann schon mal raus. Für ganz. Manche hielten den Kopf hin, um den Sportunterricht hinter sich zu lassen. Ein ausgeschlagenes Auge, was ist das schon, wenn man dafür nicht zwei Stunden lang stechenden Schwitzmuff atmen muss?

Eines Tages erwischte es einen der Spieler am Fuß. Der war dann 'ab', hatte aber keine Lust dazu oder war zu stolz, sein Versagen hinzunehmen, da er sich für unüberwindlich hielt. Er leugnete den Treffer und blieb im Spiel. Da selbst die Pfeife des Dübel nicht half, musste sich der Rest der Klasse arrangieren. Denn andernfalls hätte man Medizinbälle stemmen und Seile klettern müssen oder schlimmer noch: Sportabzeichen machen.

Vor die Alternative gestellt, entweder mit einer Lüge weiter zu spielen oder gegen die Wahrheit zu exerzieren, ließen die Mitschüler den Lügner im Feld und knallten ihm eine Runde später den Ball ins Gesicht. Dann war er ab-ab und als einer der letzten ein großer Held. Fast wie Schumi, als er Frentzen durch Unfall die Meisterschaft verbeulte. Sport ist Überlebenskampf, und der wird hauptsächlich durch Lügen gewonnen, weshalb es auch in fast jedem Sport einen Richter geben muss.

Sieps beobachtete die Szene mit Staunen und entschloss sich, eine eigene Lüge in die Welt zu pflanzen. Er wollte sie hegen und pflegen und sehen, wie sie wuchs. Das tat er ...