Linie 7

Gegen Ende des Sozialismus fährt ein Omnibus Marke Fortschritt durch die Stadt. Die Sitzordnung war stets vorgegeben. Vorne links, fast gleichauf mit dem Fahrer, saß der Ersatzfahrer, der den Bus vom Depot zur Haltestraße fuhr, dort den Hauptamtlichen abholte, dann weiter in die Marktallee und zum Spitalplatz. Dort Fahrerwechsel. Der Spitalplatz liegt etwas außerhalb. An der Großen Brücke steigt Emma Kandinsky ein, Vorsitzende im Komitee und langjährige Kombinatsarbeiterin. Die russische Maschine, wie man sie nennt, ist in die Jahre gekommen. Im Alter von knappen achtzig Jahren ist sie erblindet.
Weitere Plätze sind vorbelegt. Als der Busfahrer stirbt, übernimmt Pjotr seinen Platz. Pjotr hat eigentlich keine Lizenz, kennt aber jede Schraube an seinem Fahrzeug und jeden Stein auf seinem Weg. Beim Zusammenbruch ist er der Leidtragende. Weil kein Geld da ist, wird er nicht bezahlt. Busfahrer werden gebraucht, also hält man ihn mit Versprechungen auf der Stelle. Irgendwann würde alles besser. Bewirbt er sich anderweitig, wird ein weitläufiges Netz wirksam und schirmt ihn von jeder offenen Stelle ab. Er versucht es mit selbständiger Arbeit, wird in der Schwebe gehalten. Solange er den Bus fährt, ist alles gut. Ab und zu steckt ihm einer der Fahrgäste eine Zeitung zu, Zigaretten oder auch mal einen kleinen Schein, das muss reichen. Man hat sich an seine Dienste gewöhnt.
Seit einiger Zeit fahren bewaffnete Banden mit dem Bus. Es sind vorwiegend Aufschneider mit Gaspistolen, die ihre Umwelt terrorisieren. Aber nachgewiesen ist nichts. Nachgewiesen ist nichts. Auch wird schon mal etwas geklaut, die Reifen zerstochen, das Depot zum Hehlen genutzt. Aber nachgewiesen ist nichts. Die Polizei kann da nichts machen. Das ist die neue Zeit. Das geht eine ganze Weile so. Man ist im Umbruch.
Pjotr sagt, die Welt sei im Stimmbruch. Er wird eines Morgens von einem Betrunkenen angepöbelt: Ich haue dich mit einer Eisenstange um. Er hatte Emma Kandinsky helfen wollen, der jeden Morgen das Portemonnaie geplündert wird, wenn sie von der Rente kommt. Alle anderen schauen weg. Pjotr stellt einen nach dem anderen zur Rede und hört Ausflüchte und Erklärungsversuche. Nachgewiesen ist nichts. Man muss Verständnis haben. Die Gang hat jetzt nationale Ziele. Man hat die Ursache für alle Übel gefunden. Und muss sie radikal ausreißen.
Eines Tages ist Emma eingeschlafen, ein Penner von den Nationalen macht sich an ihren Sachen zu schaffen, Pjotr mischt sich ein, wird halb tot geschlagen, direkt vor dem Spital. Die Polizei verhört ihn als Schuldigen, fragt ihn, wem der Bus gehört, nach seinen Einkünften, er solle doch zufrieden sein. Pack schlägt sich und verträgt sich. Schließlich hat Pjotr keine Ziele im Leben. Hatte er noch nie. Nicht einmal soziale oder nationale. Er ist einfach nur naiv. Auch Emma tadelt Pjotr, warum er sich eingemischt habe. Sie hätte doch alles gut im Griff gehabt. Vorher. Vorher war überhaupt alles noch besser, als es den Sozialismus noch gab. Da waren auch die Nationalen engagierter. Heute gucken alle weg. Auch Pjotrs Fahrgäste haben von allem nichts gesehen. Es ist ja auch nichts nachgewiesen. Pjotr verlässt die Stadt.
Kurz darauf die Nachricht, dass der Bus nicht mehr fährt. Die Fahrgäste sollen sich nun Autos kaufen. Dafür haben sie kein Geld. Die russische Maschine liegt im Krankenhaus und kann das Taxi nicht bezahlen. Sie erinnert sich an nichts, seit sie gefallen ist. Sie ist so eigenartig gefallen. Aber nachgewiesen ist nichts. Man engagiert sich zu wenig. Wofür auch? Ist ja alles kaputt. Andere Fahrgäste: Der Geiger hat aufgehört zu spielen. Er gibt jetzt Flötenunterricht. Die Babuschka wurde im Ministerium eingestellt. Sie soll eine Koryphäe sein. Umblättern konnte sie immer schon gut, sagt der Geiger. Sie ist jetzt auch national. Aber anders. Weltfrieden und so.
Pjotr ist wieder im Lande. Das Depot ist jetzt Elektrohandel. Konsole. Mobil. mp3. Der Store hat alles, nur keinen Parkplatz für Busse. Pjotr sieht den Fortschritt kaputt am Wegesrand und weiß sich nicht der Gefühle zu erwehren. Er denkt an den Kollegen und seinen Spruch: Wir fahren immer in die Zukunft, deswegen sitzen wir vorne. Fortschritt ist nicht mehr für jeden auf der Straße. Fortschritt kommt heute im Kabel.
Pjotr bringt mit wenigen Handgriffen, wie er es gelernt hat, das Fahrzeug in Schuss und startet die Runde, holt Fahrgäste ab und bringt Fahrgäste hin, wo sie stehen und gehen, in Erinnerung an alte Zeiten. Er bedient die Stajankaya und die Nowa Kandinskaja, die Große Brücke und das Kleine Los und wendet am Kreisel vom Zoo. Es ist wie früher. Für einen Moment ist alles wieder gut. Doch dann gehen an der Heldenallee in Höhe Oper die Türen auf und der Penner steht draußen. Anzug und Krawatte, wie sich das gehört. Er ist jetzt Unternehmer und hat die Konkurrenz gekauft. Trotz Inkompetenz zu Grunde gewirtschaftet, zu einem der wichtigsten Unternehmer aufgestiegen. Schulden sind schick. Gehen auch besser als das Kakerlakenbusiness. Elektro läuft schlecht. Energie geht über öffentliche Hand. Müll macht nur Dreck. Aber Insolvenz läuft prächtig. Und Steuern laufen gut. Auf den Malediven sind Steuern gerade noch so rentabel anzulegen.
Pjotr hat mal wieder nichts kapiert. Alter Schwede, der war schon immer hinterm Zug. Aber so ein alter Scheißbus, das wäre ein echter Fang für Image, sagt er. Wenn er so recht überlege, gehöre der doch der Stadt … und damit auch Pjotr, der Fahrer. Konkurs ist heiße Luft, aber Konkursmasse ist Masse. Der Prächtige ist nämlich heute Bürgermeister. Ein Patriot, wie er im Buche steht. Das Wort National mag er nicht. Man muss heute eurpäisch denken oder global.
Und Pjotr hat das schwere Radmutternkreuz dabei. Und die Eisenstange vom Wagenheber.