Beachy Head

Die ganze Gegend da unten ist Normannen-verseucht. Sachsen, Römer, Wilhelm-Bastarde ... wer hat sich nicht alles in Calais und Umgebung eingeschifft und rübergemacht auf die andere Seite, um dort ein Reich zu gründen oder in Stücke zu hauen? Tausende Jahre Invasionsgeschichte hat Sussex hinter sich. Die Pockennarben der Geschichte blühen am Strand und in den Klippen. Und wie paradiesisch die Bilder, wenn man an einem freien Tag dort oben spazieren geht!

Der Himmel. Er ist in Serpentinen erreichbar, die wie von Gottes Hand mit einem grünen Flor belegt an eine Jakobstreppe erinnern. Der nächste Schritt führt sicher ins Paradies. Es geht hinan. Und oben wartet der Zinken, an dem durchschnittlich zwanzig Menschen im Jahr ihr Leben lassen. 160 Meter fliegen sie in die Tiefe, bevor die Festkörperphysik dem Höhenflug ein Ende setzt.

Der schwarze Mönch von Beachy Head versuchte Heinrich, dem VIII zu fliehen, bevor man ihn fing, in Fesseln warf und danach von den Klippen. Siebzig Schiffe strandeten später an dieser Stelle. Gut, östlich des Leuchtturms nannte sich eine Säule Teufels Kamin, was den viktorianischen Okkultisten Aleister Crowler zur Voraussage veranlasste, Eastbourne würde untergehen, wenn der Kamin fiele.

2001 war es soweit. Glücklicherweise konnte ein Hexenzirkel den Fluch noch abwenden und die Gegend 'reinigen'. Das alles steht auf der Speisekarte des Eastbourne Riviera Restaurant - von hier aus gesehen: knapp vor dem Pier. Was nicht drauf steht: dass alles wahr ist. Spaziergang zum Himmel. Ein wundervoller Tag. Die Sonne scheint. Im Magen blubbert das Sundowner Bitter Ale vermischt mit dem Rauch einer Zigarre. Der Himmel strahlt Zuversicht, und die Spitfire - Jäger üben das WWII-Revival unter den Sieben Schwestern. Ein herrlicher Tag.

Dann die erste Touristin, die sich oben am Zapfen über die Kante neigt, Selfie von sich und dem Meer. Dann die nächste, die sich und die Freundin - Doubleselfie von sich und dem Meer und dem Abgrund dazwischen - auf SIM-Karte bannt. Nebenher die Geschichte von der Asiatin, die jüngst bei einem ähnlichen Unternehmen über die Kante ging. Dann die übernächste und die dritte und vierte und ein Paar aus den Staaten Sprünge übend am Abgrund, die Kante reizt doch sehr, dann die Belastungsgrenze der Nerven (man kann dort kaum zum Pinkeln gehen, weil nur wenig Stechginster Deckung gibt).

Hoihoi, da springt die Kleine bis auf einen halben Meter an die Kante. Und die Kameras klicken. Bemerkung aus dem Off an einen gegnerischen Sensationsfotografen: Ah, jetzt haben auch noch andere das Motiv entdeckt! Die Antwort geht im Schlachtlärm unter: Ich hab sie ja da hin geschickt. Eine Viertelstunde später die Gewissheit: Es stimmt. Spektakuläre Fotos an der Kante, die mit Tosen ins Meer hinein fällt.

Manchmal, heute nicht. Die Heilsarmee patrouilliert mit der Küstenwacht. Aber heute keine toten Touristen. Wäre auch schlecht vom Timing, denn der einzige Zugang ist momentan im Bau. Jurassic Coast vorübergehend gesperrt. Flatterbänder dann später. Action an der Himmelspforte im ganz normalen Verteilungkampf. Der Mensch will es eben wissen: wer ist erster im Ziel?