Die Kraft der Illusion

Der Entschluss muss über Nacht gereift sein, am nächsten Morgen früher aufzustehen. Um fünf am Morgen genieße ich am Dach eines kleinen Häuschens, das Hunderte Pilger von innen bemalt und bekritzelt haben, Kaffee, Ruhe und Zigarette. Die Nacht hat den Himmel abgekühlt, das größte Übel unter meinen Füßen geheilt, meine Motivation wieder aufgefüllt und die Wäsche getrocknet. Sobald sich die Morgendämmerung zeigt, ziehe ich die antik anmutende Tür ins Schloss und schleiche zwischen den Berufspendlern hindurch an Kiosken und Bushaltestellen vorbei unter den Augen der Spanier zur Gemeindegrenze hin, wo sich die Erfahrungen des vorigen Tages potenzieren. Wieder trostlose Wasserrinnen, trocken und voller Müll, an denen entlang sich staubige Pisten in landwirtschaftliche Randzonen erstrecken. Ein Industriegebiet und dann Olivenhaine. Im weiteren Verlauf hört man von fern schon Maschinen, die einen weitgestreckten Hain roden, die ausgerissenen Baumstümpfe schreddern und die traurigen Stümpfe auf Lkws verladen. Gefräßiger Lärm der Maschinen begleitet mich über eine gute Stunde. Die betroffenen Areale scheinen bei genauerem Hinsehen, endlos zu sein. Es ist ein naturwissenschaftliches Phänomen, durchaus erklärbar, dass einem früh morgens Distanzen kürzer erscheinen, als sie dann in der Mittagszeit tatsächlich sind. Man kennt es von Sonne und Mond, die morgens im Dunst wesentlich größer erscheinen, näher also als sie in Wirklichkeit dem Betrachter sind, weil der Dunst einen Linseneffekt hat, der die Objekte am Horizont heranzoomt. Später verfliegt die Illusion. Man sollte nicht darüber nachdenken, denn morgens hat man noch Kraft, um auch längere Schritte zu machen. So kann man sich selbst überlisten.

Dann endlich ein malerisches Naturreservat, in dem sich herrlich wandern lässt, und die Hoffnung, alle zivilisatorischen Sünden nun überwunden zu haben. Und da geht der Schmerz im Knie los, steigert sich fröhlich zu einer Tortur aus Knicken, Knacken und Strecken, bis ich endlich einen Stein finde, um kurz mal inne zu halten und das alles zu vergessen. Rinder weiden eine trockene Wiese ab. Schafe oder Ziegen klimpern irgendwo mit ihrem Geläut. Elstern beschweren sich über die Störung. Zirpen und Grillen brausen in Konzerten, die ein Dirigent genauso unvermittelt anhält, wie er sie wieder in Gang setzt, und die Sonne schmilzt den letzten Dunst vom Himmel. Mein Handy behauptet, ich hätte jetzt gerade die Hälfte meiner Etappe gelaufen. Als dann auch noch die Landstraße kommt, denke ich an eine kosmische Strafe.

Alle Probleme sind nebensächlich, doch mit meinem Knie darf ich es mir nicht verscherzen. Das Gelenk hat mich schon einmal vor langer Zeit von einer Radtour direkt ins Krankenhaus gezwungen; eine Erfahrung, die man nicht wiederholen will. Mit autogenem Training rede ich mir ein, dass sich alles zum guten wendet. Alles.
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