Antidepressiva

Schopenhauer ist einer der unkomfortabelsten Wege in die Tiefe der Depression, vielleicht also im Sinne der Drehtür auch ein Weg hinaus. Er hat sich mit der Dialektik beschäftigt. Dieses Wort, wie alle Wörter, die sich lateinisch einkleiden, verbirgt eine anspruchslose Seele in einem aufwendigen Gewand, möchte ich mal sagen. Dialektik übersetzt Schopenhauer selbst in seinem Titel als ‘Die Kunst, Recht zu behalten’.

Ja, da möchte man als Epigone doch gleich mal auf die Medien verweisen, deren ‘Kunst’ mit dem selben Ziel ganz unprätentiös durch blosse Gewalteinwirkung zum Ziel kommt; laut, groß, häufig und unverfroren hat man immer Recht, egal, was man sagt. Wer die Schlagzeile druckt, hat das universale Berlusconiargument und braucht den Schopenhauer nicht.

Aber der will es wirklich wissen. In seiner Vorrede behauptet er, dass in diesem Sinne nach seiner Kenntnis kaum etwas geleistet worden wäre, obwohl er sich weit und breit umgesehen habe, es also wissen müsse. Dialektik sei ein unbebautes Feld. Und dann fängt er an, es zu bebauen. Mit eben den Theorien, die Plato, Aristoteles und die Sophisten tausende Jahre zuvor bereits erarbeitet, an die Scholastik vererbt, den Jesuiten in die Wiege gelegt und Zynikern wie Nietzsche, Schopenhauer und Konsorten ins Lehrbuch geschrieben haben.

Das Wesentliche jeder Disputation sei zuvörderst zu betrachten, denn wenngleich der Gegner, der dem Wesentlichen widerspricht, die Diskussion jederzeit ad absurdum zu führen in der Lage ist, wie der Lateiner durch ‘Contra negantem principia non est disputandem’ bemerke, sei das Wesentliche doch der wesentliche Angriffspunkt.

Falsch. Wie er bereits im Vorwort selbst bemerkte. Denn das Wesentliche unwesentlich zu machen, stattdessen die Fechtkunst des Wortes zu betreiben, danach dann als Sieger das Unwesentliche als Richtiges zu diktieren, ist die eigentliche Botschaft der Rechthaberei mit dem schönen lateinischen Namen.

Gut, Schopenhauer konnte nicht alles wissen. Aber man merkt an ihm, wie hilflos wir sind, wenn wir redlich versuchen, so etwas wie Wahrheit zu finden – oder zu implantieren. Wenn Wahrheit schon einem Genius der Aufklärung dermaßen durch die Finger gleitet, wie dann erst dem Kerl an der Safttüte des Instant-net, dessen Nachrichten ungeprüft von jedem menschlichen Verstand in Bruchteilen einer Sekunde geboren werden, sich vermehren, fressen und sterben; und schon im Moment des Ablebens von Sedimenten weiterer Wahrheiten überlagert werden, die den gleichen Lebenslauf haben, die selben Verursacher und dieselbe Substanz? Heiße Luft.

Kann man gegen das Internet diskutieren? Schopenhauers modi operandi exerzieren, um der eigentlichen Wahrheit in den Tiefen der menschlichen Erkenntnis ad rem zum Durchbruch zu verhelfen? Fühlt sich etwa so an wie der Einwand eines Betrunkenen am Steuer, den der Polizist nach seinem Führerschein fragt: „Zeigen Sie mir erst mal Ihre Dienstmarke!“

Ich würde es naiv nennen, aber wenn ich mir so Arthurs Konterfei auf dem Cover ansehe, verfliegt der Gedanke, ihn mit Unvoreingenommenheit in Verbindung zu bringen. Er hätte auch Präludien und Fugen komponieren können, und dabei seine Frau wegen sechs Kreuzern Mißwirtschaft prügeln. Große Geister hegen Charakter.

Also, wie wieder raus aus dem Debakel? Die Wahrheit an sich vergessen und die Strategien, mit denen man seinen Alleinanspruch auf sie erheben muss? Das bürgerliche Recht auf Grundbesitz im ungeteilten Paradies des ewig Gültigen, Reinen, Schönen und Wahren? Oder gleich Parzellen auf diesem Mond meistbietend verkaufen – in der Hoffnung, dass die Eigentümer dann ihre Sachen packen und in ihre neuerworbenen Claims auswandern werden, um dort weiter nach dem zu graben, was sie hier schon nicht fanden?

Das Schöne an Schopenhauer ist, die Uhrwerke ticken zu sehen, wenn sie die nach ihrer Meinung allgemein gültige Zeit anzeigen. Man sieht durch sein Gesicht hindurch die Räder knirschen, die Achsen bohren und Stifte einrasten, metallische Federn sich abspulen und das ganze feinmechanische Räderwerk der prähumanistischen Bildungsepoche an einem Granitblock fräsen, der einfach nicht nachgeben will: der Wirklichkeit.

Jetzt ist es Zeit, in den Spiegel zu gucken, denn das hätte ihm wohl auch geholfen. Naja, die Glatze, oder nennen wir es hohe Stirn, die unterscheidet uns. Aber sonst nicht viel. Vielleicht bin ich noch zu retten, wenn ich aufhöre, seine Bücher zu lesen ...