Auftaktsturz

Warum ich die Tour mag? Vielleicht der Akteure wegen. Sie schinden sich, lassen sich schinden, werden ausgepeitscht, wenn sie nicht dopen, ausgepeitscht, wenn sie es tun. Sie stürzen, raffen sich auf, und wenn sie mit zehn komplexen Knochenbrüchen in den Besenwagen steigen, müssen sie sich noch aus Feigheit vor dem Feind verstecken. Der Feind ist die Zeit oder das Fehlen derselben, nebst einigen Stoffen, die der Körper braucht, um über ihre, der Zeit Runden zu kommen. Und dann knallt es.

Die junge ¿Frau?, die ihre Großeltern supporten wollte, hatte sicher nichts übles im Sinn. Und der zweite Sturz vorm Ziel war eher auch unvorhergesehen. Wie gehen Fahrer damit um, deren Gesundheit, Hoffnungen und Ambitionen auf dem Spiel stehen? Es erstaunt mich immer wieder, wie taktvoll sie vors Mikrofon treten. Und nach allem, was wir von Lance, dem starken Arm der Pharmaindustrie, Armstrong gesehen und seinen Anwälten gehört haben, bringen die sportlich agierenden Fahrer aktuell die Begeisterung in den Radsport zurück.

Jens Voigt, zweifellos selbst ein Vollblutsympath nicht nur auf der Kommentatorenbank, schlägt angesichts der dramatischen Ereignisse ein Schulungsvideo für Zuschauer vor. Es gibt solche sicher schon für Streckenposten, und wenn man Karsten Miegels glauben will, auch aus vergangenen Saisons, warum also nicht einen kleinen Spot in der Werbepause? Ja, also: die Zuschauer, die ihn sehen sollten, wären dann an der Strecke und sähen davon nichts.

So eine Etappe am Streckenrand ist - leider - ganz anders als im Fernsehen. Man kann fast sagen: im Fernsehen ist alles besser, informativer, runder. An der Strecke wartet man vor allem, vertreibt sich die Zeit je nach Laune mit einer Kanne Radler oder einer Palette Bier nebst Wein und Whatsapp-Getwitter, und wenn es losgeht, rauscht der Zug an dir vorbei, dass es einem die Kappe von der Stirn reißt. Dann ist alles vorbei. Die »Flics« an der Strecke könnten ein Lied davon singen, wie viele unentschieden noch in letzter Sekunde auf der Suche nach einem freien Blickfeld ihren Kinderwagen über die Straße schieben, weil sie nicht wissen, ob das Feld jetzt oder erst in zwanzig Minuten durch die Gasse fliegt.

Daran sollte man als Supporter denken wie ich an die Münchner S-Bahn, denn die fährt mit nämlichem Tempo und hält genauso ungern auf freier Strecke für Hase oder Katze an. Man unterschätzt das Peloton, den Knoten, das Feld der 300 Räder. Vielleicht kann die Tourleitung diskutieren, ob man die Zeitnahme für die Gesamtwertung neutralisiert, Blumensträuße in Krankenhäuser schicken und Chaosbilder in die Postillen posten. Unfälle wie diese wird man aller Wahrscheinlichkeit nach nie ganz vermeiden.

Hutapp aber für die Fahrer, die das durchgestanden haben. Und trotzdem respektvoll mit ihren Fans umgehen.