Was ist ein Tisch?

Schopenhauer revistedEin hochphilosophischer Actionfilm behauptet: verschiedene Versionen der Wahrheit nennt man Lüge. Nun ist die Frage, ob es eine Urversion gibt, die sich von allen anderen unterscheidet und keine Lüge ist. Aristoteles sah eine solche Wahrheit, die man vielleicht als einen Bauplan verstehen kann, nach dem die verschiedenen Wahrnehmungen oder Lügen angefertigt werden.

Es müsste dann zumindest eine ideelle Version dieses Plans geben, eine Art Idee, die in unterschiedlich reiner Form allen zur Verfügung steht und als Vorlage dient, um die eigene Wahrheit zu erschaffen. Wie die Idee eines Tisches, die jeder verschieden auffasst, der eine mit Tischbeinen drunter, der andere als eine Platte auf einem Sockel, der dritte als einen flachen Stein, dem vierten reicht vielleicht ein Handtuch im Sand, um Tisch dazu zu sagen. Die Idee aber soll existieren als gemeinsames Ganzes.

Die Idee Tisch entspräche dann der Wahrheit und die jeweiligen Ausführungen behaupteten nur, Tische zu sein, kämen der Idee beliebig nahe, unterschieden sich aber immer voneinander und von der Idee als solcher. Die Wahrheit träfe nie zu.

Da nun stellt sich die Frage, ob nicht diese Idee, statt a priori dagewesen zu sein, erst nachträglich durch Vergleich von einzigartigen Phänomenen geschaffen wird. Man sieht ein Handtuch, auf dem Essen steht, eine Holzplatte auf Beinen, an der gegessen wird, einen Stein, der zum Essen dient, und sagt dann Tisch dazu, weil man das Essen darauf als Gemeinsamkeit erkennt. Die Idee eines Tisches formt sich nachträglich aus gleichförmiger Nutzung unterschiedlicher Dinge, die man daraufhin zu einem Wesentlichen zu abstrahieren versucht.

Was dann? Die Wahrheit ‘Tisch’ hört auf zu existieren; an seine Stelle tritt ein Verabredungsversuch zur Eingrenzung eines als gleichlautend erkannten Phänomens. Wir nennen den Vorgang Definition, Abgrenzung. Wahrheit per definitionem sorgt für eine ganz neue Sichtweise der Dinge, denn nun ist nicht mehr im Anfang das Wort, das bei Gott und damit unumstößlich ist, sondern das Ding.

Es gäbe unzählige Dinge, die sich einem immer gleichen Zweck zuordnen liessen, den man schließlich als Tisch formuliert. Die Wahrheit Tisch folgt den unzähligen Varianten, die alle verschieden und doch ähnlich sind.

Das Ding ist das, was wir in ihm sehen, und das Gespräch darüber, was wir in einem Ding erkennen, ist auch nicht mehr Lüge oder Wahrheit sondern ein Deutungsversuch, ein kreativer Anspruch, also auch wieder eine Idee. Das Wort Lüge wäre dann eine bösartige Peitsche, um Reihen Gleichgläubiger zu ordnen, man könnte auch Sichtweise oder Deutung dazu sagen. Hier fängt es an, semantisch zu werden. Wahrheit und Lüge sind ab sofort Verabredungen zu Konformität oder dem Tabu des Nonkonformen.

Wie löst man diesen Widerspruch? Und welchen? Nennen wir das Übel beim Namen! Die mit dem Wort verbundene Moral hört auf zu passen. Kann man Lüge der Wahrheit gleichbedeutend annehmen, und was folgt daraus? Beispielsweise für die Justiz? Oder die Geschichte? Und damit die Lernfähigkeit des Menschen an sich?

Man kann. Es erfordert allerdings einen schmerzvollen Abschied. Man muss sich vom Wahrheitsprinzip verabschieden. Danach wird man nur noch formulieren können: aus meiner Sicht hat sich dies und das auf diese und jene Weise zugetragen – als Beispiel. Aus meiner Sicht ist das ein Tisch, aus deiner ein Stuhl, im Theater ein Thron und für meine Oma eine Leiter.

Was ist gewonnen? Alles relativiert sich, mithin die Verbindlichkeiten, die unsere Sprache ausmachen. Dies ist ein Tisch, jenes ein Baum, das eine Uhr – wer so nicht mehr reden kann, kann das Reden gleich lassen. Nach meiner Überzeugung dient dieser Gegenstand hauptsächlich der Zeitansage, was meiner Meinung nach eine Positionsbestimmung in einem imaginären Raum der vierten Dimension sein muss, die wiederum nach meiner Ansicht ... und so ufert eine Frage wie die nach der Uhrzeit zu einem philosophischen Diskurs aus, der unendlich dauert.

Wahrheit wäre also neuerdings ein Axiom der Verständigung, die Verabredung, dass es etwas geben muss, dessen Existenz die Logik und Konsequenz der Sprache erwirkt. Damit, finde ich, kann man leben.