... die eine fehlende Stunde

Es ist Sonntag Morgen. Jemand hat die Uhren falsch eingestellt. Es fehlt eine Stunde. Al philosophiert über den menschlichen Drang, die Uhren zurück zu stellen. Wir täten das jeden Tag, wenn wir vor dem Spiegel stünden und versuchten, den Zustand wieder herzustellen, den wir gestern hatten. Sauber und gepflegt. Ich warf ihm einen skeptischen Blick zu: Gestern? So willst du heute nicht aussehen. Mann, sagt er, das könnte viel schlimmer sein. Achso? antwortet ihm Ilga. Sie hat gut reden. Ilga sieht immer gut aus. Sie ist das Bild einer Frau. Yeah, sagt Al, ich könnte tot sein. Stimmt, sage ich. Eine lange Pause, in der Al in eine braune Flasche glotzt, aus der die Dämpfe von schalem Bier aufsteigen. Sein Frühstück dreht nicht nur die Zeit schneller vorwärts, als ihm lieb sein kann, es dreht mir auch den Magen um. Ilga hat versucht, ihn davon abzuhalten. Aber die Eier, die sie braten wollte, waren nicht da, wo sie hingehörten, im Kühlschrank. Dort stand ein leerer Eierkarton. So musste Al eben ans Eingemachte. Al hat eine Erklärung für die fehlenden Eier. Er hat sie in der Zukunft gegessen, wollte sie zurücklegen, aber dann hat man unvermittelt die Zeit umgestellt und dadurch hat sich das alles irgendwie verschoben. So ähnlich muss es in seinem Kopf aussehen. In der Zukunft hat sich nämlich, das erzählt er uns zum Beweis, noch einiges andere zugetragen. Doch das würden wir ihm ohnehin nicht glauben. Eine Einleitung, der es an Beweiskraft nicht mangelt. Wir stimmen beide zu. Und deswegen redet er nicht drüber. Bis Inga mit ihren schweigenden Verrichtungen fertig ist, die darauf hinauslaufen, keine Lebensmittel in Regalen, Kühlschrank und Schubladen zu finden, mit denen man ein Frühstück gestalten könnte. Sie frotzelt: wenn er in die Zukunft blicken könne, ob Al dort dann einen Job für sich sähe. Ein tiefangesetzter Leberhaken, der ihren Mann trotzdem nicht auf die Matte schickt. Al kontert, er sei nicht gestorben, das sei ihm erst mal Zukunft genug. Inga schüttelt sich eine Kippe aus der Schachtel. Drei sind noch drin. Sie zaubert eine Flamme aus dem Feuerzeug, mit der man Rom in Brand setzen könnte. Eine Zukunft ohne Al könne sie sich nicht vorstellen, knistert sie durch den Rauch. Niemand würde ohne Al schließlich schale Pfützen aus halbleeren Bierflaschen entfernen, weil in der zukünftigen Vergangenheit dann auch keiner die Bierflaschen vorher mit schalem Bier befüllt hätte. Ich hab das Bier da nicht reingemacht, verteidigt sich Al. Nein, aber den Rest vom Bier raus. Al zeigt auf mich: Und der hat geholfen. Eine Stunde, sage ich, es ist nur eine verdammte Stunde. Die sie zurück gedreht haben. Was in einer verdammten Stunde alles passieren kann. Oder könnte, verkündet Inga. Sie spielt sicher wieder auf diese Jobfinden-Sache an. Ist so ein Frauending, immer auf Sicherheit machen und so. Sonntag Morgen. Sind eh alle Läden zu. Inga lässt nicht locker. Die Cafés haben auf. Wenn wir Kohle hätten, hätten wir auch Spiegelei. Hätte ich früher drauf kommen können, trötet Al in seine nunmehr leere Pulle. Ich nutze die Zeit, um an den anderen zu riechen. Die frischeren sind alle leer. Die nicht leeren riechen nicht frisch. Es ist das Dilemma der Zeit, das schon Plinius der Ältere so treffend ... Ich könnte tot sein, wirft Al uns sorgenvoll hin. Stimmt, meint Inga, das hast du schon gesagt. In der Zukunft, helfe ich nach. Und Inga weiß, dass wir dann alle tot sind. Was hier auch keinem auf die Sprünge hilft. Vor allem nicht Al's Geschichte. Aber das soll es auch nicht, denn Inga ist noch in ihrem Gedanken, dass Al sich einen Job suchen könnte. Dann wären wir alle fein raus. Und die Flaschen wären wieder voll. Und sie würden nicht nach fahlem Bier riechen sondern hefig herb und ... ja ... irgendwie wichtig. Eine verdammte Stunde, sagt Al. Und bevor ihm Inga ins Wort fallen kann, erklärt er, dass die Stunde wirklich verdammt gewesen sei - im wörtlichen Sinne. Daher habe man sie vollständig gestrichen. Wir ahnen seine Pointe. Also, die Pointe, wer die Stunde gestrichen hatte. Es war derselbe, der die Eier gegessen hatte, die aus dem Kühlschrank, in der Zukunft, die es nicht gab, weil wir dann alle tot sind. Oder wären, wie Al gelassen betont. Wir wären alle tot ... ohne ihn. Alle. Inga raucht. Sie tut das, als sei der Rauch einer ihrer Rachegedanken. Aus dem Schlund eines fauchenden Ungetüms, das in einer dunklen Höhle darauf wartet, die Welt zu vertilgen und dabei eben Rauch ausstößt. Die Welt ist das Gebilde, das sich da gerade vor Al's Augen zu formen scheint, während er Bierflaschen schüttelt, um ihren Inhalt zu prüfen. Eine sehr fragile Welt. Ich war nämlich unten an der Tanke, sagt er. Nachschub holen, während ihr geschlafen habt. Hartes Stück Arbeit, denke ich. Er sorgt für seine Lieben. Inga denkt praktisch: Hat wohl nicht geklappt, wirft sie ihm hin. Nicht ganz, denn dort unten lief ein Raubüberfall. Wo? In der Tanke. Sie waren zu dritt und hatten Waffen. Al hat sich allerdings todesmutig dazwischen geworfen. Dann haben sie ihn verfolgt ... und zwar bis hier her. Sie haben die Tür zertrümmert und dann alle erschossen. Dann haben sie sich wahrscheinlich der Polizei gestellt. Weiß der Teufel, was in diesen Burschen vor sich geht. Die stehen alle unter Drogen. Klar, sagt Inga, sie würden sich in deiner Zukunft der Polizei stellen, wenn sie deine Eier geklaut hätten. Haben sie nicht. Die Eier haben sie stehen lassen, irgendwo neben der Tür. Wow, sage ich, sie haben uns alle erschossen, aber die Eier haben sie stehenlassen. Die waren, meint Al, auf anderes aus. Jetzt weiß ich's triumphiert theatralisch Inga und quetscht ihre Kippe in einen Aschenbecher, der aussieht wie der Versuv: das waren die Zeitdiebe. So habe ich das noch garnicht gesehen, fasst sich Al ans Kinn. Inga springt wie eine Feder aus dem Sofa: ich kann das nicht mehr hören. Wie zum Teufel willst du an der Tanke Lebensmittel bezahlen, wenn du nichts als diesen Scheiß im Kopf hast? Mit diesem Scheiß, sagt Al und schüttelt sich vom Magen an aufwärts, als wolle er das schale Bier wieder loswerden, das er getrunken hat. Wie? frage ich. Na, ich hab eine seiner Geschichten verkauft, löst Al sein Geheimnis. Was für Geschichten? Eine der Stories, die in seiner Schublade liegen. Er zeigt dabei mit seinem leeren Pokal auf mich. Und mein vor Unglaube verknittertes Gesicht: Du hast dem Tankwart eine meiner Geschichten verkauft? Für ein paar Eier und sechs Kannen Bier? - Und dann wurden wir alle erschossen, ergänzt Inga. Gut, dass diese Stunde uns fehlt, sage ich.