Der Schuh

Einige meiner Freunde wissen, dass ich mir in Lagos Korkschuhe gekauft habe. Wunderbare Schuhe, die genauso haltbar sind wie welche aus Leder. Seit dem Sommer habe ich allerdings die Schuhe nicht mehr getragen. Vielleicht lag es an dieser Sache: als ich sie nämlich anziehen wollte, bemerkte ich, dass in einer der schmalen Furchen in der Sohle ein kleines Steinchen zu stecken schien. So etwas ist unangenehm. Man spürt es nicht direkt, nur merkt man beim Gehen irgendwann, dass etwas nicht stimmt. Es kann vieles nicht stimmen. Das Wetter, die Kleidung, die Umgebung, die Spur vom Auto, die Preise der Bahn, der CO2-Gehalt der Luft, die politische Stimmung, die Virenlage, die Benzinpreise, da fällt so ein Steinchen im Schuh kaum auf. Das in etwa ist in Grundzügen die Lehre der Homöopathie. Am Jahresende habe ich gerade nichts zu tun, also nehme ich mir ein spitzes Messer und prokele an dem winzigen Stück in der Sohle. Vielleicht hilft es für ein gesundes neues Jahr. Während das Bügeleisen kalt wird, das Geschirr auf der Spüle tropft und der Weihnachtsbaum leuchtet, bleiben auch mal fünf Minuten, um ... ja, das Malheur zu vergrößern. Denn anstatt, dass das vermeindliche Steinchen sich aus der Ritze löst, verlängert es sich unter den hebelnden Bewegungen der Messerspitze in ein längliches Etwas, das da aus der Sohle glotzt. Vielleicht, denke ich, ein kleines Ästchen, das sich unglücklich hineingebohrt hat. Und ziehe daran mit aller Kraft. Das Ding aus einer anderen Welt (möglicherweise aus dem botanischen Garten von Huelva) hält Stand. Nun dämmert mir eine (glücklicherweise falsche) Einsicht, dass das Ding Bestandteil der Sohle selbst sein müsse. Jemand hätte es in dem Gummi als Verstärkungsrippe eingeklebt, und die löst sich, piekt heraus und ... schwupps, war das Teil einen Zentimeter lang. Was jetzt? Wieder reinstopfen, oder den Schuh aufgeben und - wir denken an Omis Winterpulli - weiter an dem Faden ziehen, bis nichts mehr von der Kleidung übrig ist? Ich denke, dass die Schuhe nicht in diesem jämmerlichen Zustand in die Tonne gehören, fast neu mit einem Dorn im Fleisch. Besser total kaputt als halb erledigt, ziehe ich mit allen handwerklichen Mitteln weiter an dem kleinen Dorn und verdoppele ungewollt seine Länge. Das ganze wird surreal, denn so, wie es aussieht, kann der Dorn unmöglich vorher in der Sohle Platz gefunden haben, ohne dass es der Fuß bemerkt. Ich fange an, über den Aufbau einer orthopädischen Vorrichtung nachzudenken und die Hohlräume, die sie birgt. Und dann gebe ich mir einen Ruck und zack: habe ich einen Dorn, einen Ast, ein Irgendwas von über zwei Zentimetern in der Hand. Der Schuh wie neu. Also ziehe ich stolz meine portugiesischen Treter über, laufe drei Schritte und merke, dass jetzt mit dem anderen Schuh was nicht stimmt. Ausgezogen, angezogen, außen innen die Sohlen überprüft, Brandsohle raus, Klebung entfernt, nichts. Placeboeffekt? Oder bin ich jetzt hypersensibilisiert? Na, jedenfalls breitet sich die Sorge aus, dass ich so schnell nicht mehr mit der gleichen Unbefangenheit Schuhe anziehen werde, wie ich das vorher getan habe. Was wäre, wenn der stechende Schmerz im Knie, den ich seit Portugal hatte, eine Folge eines in der Schuhsohle wirkenden homöopathischen Ästchens (schwarze Magie) wäre? Die Gewächse von dem botanischen Garten, den ich erwähnte (Jardines José Celestino Mutis) bergen so viele exotische Pflanzen, deren praktisch jede Heilmittel, Magie oder auch nur Selbstschutz enthält, wie zum Beispiel zehn Zentimeter lange Dornen, die im Rasen darauf warten, dass jemand sich an die Früchte des Urheberbaums wagen will. Vielleicht muss ich mal mit meinen Schuhen zu einem guten Medizinmann ... Vorsatz für '23