Nächtliche Ruhestörung

Kennen Sie dieses Gefühl, man müsste woanders sein? Aber man weiß nicht, wo?
Keine Reaktion zu erkennen. Psychiater lernen das wahrscheinlich im Studium. Dieser hier schaut mich an, als wüsste er genau, wovon ich gerade spreche. Auch das lernen sie im Studium. Hätte ich ihm von den grünen Männchen erzählt, die nachts meine Restmülltonne mit Pizzakartons füllen, obwohl doch die Verpackungen aus Papier sind, Doc Vogelsang wüsste genau, wovon ich spreche. Würde ich ihm erzählen, dass der Wurm in meiner Tequilaflasche lebt, Doc Vogelsang wüsste genau, wovon ich rede. Wahrscheinlich hätte er sogar einen Namen dafür. Vorzugsweise einen lateinischen. Dissoziativ war eine Weile so ein Modewort. Meine Person dissoziiert zwischen hier und dort, ohne das Dort zu kennen. Und während ich rede, leuchtet mir glasklar ein, dass auch der, der jetzt dort ist, nicht wissen kann, was hier gerade passiert. Doc Vogelsang scheint zu schlafen. Das ist der Trick. Er bittet mich, Platz zu nehmen, atmet tief ein und schleichend wieder aus, und sobald ich den Mund öffne, ratzt er weg. Mit offenen Augen. Psychiater verdienen buchstäblich schlafend ihr Geld.
Ich werde diese Vorgehensweise mal so für mich reziproke Hypnose-Therapie nennen. Vielleicht erzähle ich Doc Vogelsang mal irgendeinen Mist und beobachte, ob er davon aufwacht.
Wissen Sie, sage ich, vor langer Zeit wohnte ich mal in einem verfallenen Haus. Ich wachte an einem Sonntag morgens einigermaßen betrunken auf und machte einen Fehler beim Rasieren. Vogelsang lüpft die Brille von der Nase und legt sie vor sich auf die Schreibtischplatte. Mann-oh-Mann, was eine Platte! Ein Schreibtisch, an dem eine Kanzlei sitzen könnte. Seniorpartner, Juniorpartner, zwei bis drei Gehilfen und die passenden Sekretärinnen. Aber der Schreibtisch ist leer, so wie Vogelsangs Gesichtsausdruck. Die Brille allerdings hat einen winzigen Fleck auf der linken Linse, von mir aus gesehen die rechte. Im Spiegel betrachtet wäre das noch mal anders. Ich hatte so viel Restalkohol, dass ich mich mit dem Rasiermesser beinahe massakriert hätte. Ein tiefer Schnitt im Gesicht, die Narbe ist wahrscheinlich noch zu sehen, wenn meine Haut etwas glatter wäre und der Bart weg.
Vogelsang zupft ein Brillenputztuch aus der Jackettasche wie im Blindflug, in Trance. Dieses Tuch hat seinen festen Platz, selbst dieses blöde Putztuch hat seinen festen Platz. Nur ich nicht. Ich dachte, ich verblute. Sonntags betrunken in Bayern mit einem Schnitt am Hals, der aus Palermo hätte stammen können, sichelförmig von der Wange bis ... naja, damals hatte ich zum ersten Mal dieses granitharte Gefühl von Einsamkeit. Ich könnte hier verbluten, dachte ich, es würde keiner merken.
Vogelsang putzt. Und ich taste mit den Blicken seine Augen nach Leben ab: Vielleicht bin ich ja verblutet, und habe es nur nicht bemerkt ...