Die Demokratie des Bücherregals

Ein Fluggast erhebt sich in der Maschine nach irgendwo, zeigt seinen Bombengürtel herum und verlangt eine demokratische Abstimmung, ob die Maschine nicht besser nach Addis Abeba fliegen solle.

Demokratie ist was feines. Einmal schon vom Namen her. Es gibt Wörter, die einfach von sich aus schon richtig sind. Das goldene Chirurgenmesser, mit dem sich kein Fehler machen lässt. Der Stein der Weisen.

Verblüffend wird dieses Allwort in seiner Universalität. Ein Friseur kann seinem Kunden einen Topf auf den Schädel setzen, mit der Schafschere die Stoppeln rasieren und den resultierenden Haarschnitt demokratisch nennen. Schließlich darf ja kein Haar länger sein als das andere. Im Physikunterricht fragt der Lehrer, warum in kommunizierenden Röhren der Wasserspiegel gleich hoch steht, und bekommt die Antwort: das ist demokratisch. Netzwerke sind demokratisch organisiert. Und wer sein Buchregal nach Farben und Größen sortiert, handelt demokratisch.

Demokratie ist vor allem Formalismus. Auf Urlaubsreisen in der Familie wird demokratisch über das Reiseziel abgestimmt. Der Papa fuchtelt mit dem Lenkrad gefährlich um die Bäume herum, während Mama die demokratischen Verlierer zu besänftigen sucht, doch bittebitte dahin zu wollen, wo die geringste Gefahr durch den größten Schreihals droht.

Demokratie muss, sagt man dann, sowas aushalten können. Die Frage ist, ob diese Art von Demokratie die Demokraten aushält.

Die Sitzung

Die Wahrnehmungsberechtigten der VG Wort versammeln sich im Meistersaal von Berlin. Es gilt, BGH-Urteile umzusetzen und Ausschüttungsverfahren zu diskutieren. Die Zahlungen sind kompliziert, langwierige Abrechnungen behindern den Koloss. Der Vorstand trägt das Vorhaben 'klug, ruhig' und 'geduldig' vor, und dann erhebt sich Widerstand. So wird es kolportiert, denn der Verfasser dieses Artikels ist gar nicht da.

Berlin ist weit, die Anreise kostet, Zeit ist knapp. Nicht jeder der ca 160.000 Wahrnehmungsberechtigten kann an der Versammlung teilnehmen, teils aus zeitlichen, organisatorischen, teils aus finanziellen Erwägungen heraus. Die Teilnehmer der Vollversammlung stellen also eine (leider) wenig repräsentative Auswahl dar von Menschen, die sich ins Geschehen aktiv mit einbringen wollen. Genauer gesagt, sind unter einem halben Promille der Berechtigten im Saal.

Wer im Saal sitzt, zeigt sich bei den aggressivsten Wortbeiträgen, in denen Drohungen aufkommen, die VG-Wort juristisch gegen die Wand zu fahren. Da ist ein Herr, der ständig ruft: "Ich will mein Geld". Wer dieser Herr denn sei, der so dringend sein Geld wolle, dass er den gesamten Verein hochgehen lassen müsse, stellte sich durch Recherche schnell heraus: ein bezahlter Vertreter des Interessenverbands mittelständischer Computer- und Hardwarehersteller, etc. pp.. Genau gesagt, ein Maulwurf, der im Interesse der Abgabepflichtigen unter dem Deckmantel, selbst Wissenschaftsautor zu sein, die VG auf der VV zu torpedieren auszog.

Und das gelingt, denn die Interessen von 160.000 Wahrnehmungsberechtigten finden in diesem Beitrag hier keinerlei Erwähnung, dafür aber das leidige Gejammer eines Querulanten, der die VG Wort wegen angeblicher Veruntreuung vor den Kadi zerren will. Wenn man nicht die Satzung in seinem Sinne umschreibt und die Gerätehersteller entlastet, seine Beiträge pflichtschuldigst auszahlt und überhaupt.

Ein dermaßen geprüfter Vorstand wird sich abends bei der Floskel entspannen, das müsse Demokratie eben aushalten. Ich als Wahrnehmungsberechtigter fühle mich angesichts dieser Story eher wie der Fluggast, der ein Ticket nach New York bezahlt hat und nun diesen 'Demokraten' aushalten muss, der nach Äthiopien fliegen will.

Nach fünfstündiger Debatte entscheidet sich schließlich die Mitgliederversammlung, den Gesezgeber aufzufordern, dafür zu sorgen, dass AutorInnen und VerlegerInnen in einer gemeinsamen VG Wort weiterhin zusammen arbeiten können. In Umsetzung des BGH-Urteils.

Mama und Papa haben aber möglicherweise gerade anderes zu tun, als Streite auf dem Rücksitz zu schlichten. Somit ist der Etappensieg erreicht, die gesamte Urlaubsreise nachhaltig zu verderben, egal, wohin es geht.

Es ist wohl den ehrenamtlichen Verwaltungsräten und der Arbeit unzähliger freundlicher Menschen geschuldet, dass der Eklat mit dem Herrn, der nichts als 'sein Geld' will, die Wünsche der 159.999 übrigen Fluggäste, die auf ihre Ansprüche demokratisch verzichten sollen, nicht gegen die nächste Bergwand knallte. Ich stelle mir angesichts der Schilderungen die Frage, ob die VG Wort nicht ihren Anspruch auf demokratische Institutionalisierung aufgeben und den Fluggast mit dem exotischen Ziel in seinen eigenen Heißluftballon setzen solle, wohin auch immer.

Irgendwie kommt mir dabei die Parabel von dem biblischen Schäfer in den Sinn, der die Herde den Wölfen überlässt, um das eine verirrte ...