Restaurant »La Vie«

Sie nennen es liebevoll »Lavie« oder »Le Resto«. Es ist etwas diffizil, das geben sie zu, es ist diffizil, dorthin zu gelangen. Denn der Weg ist mit Überraschungen gespickt. Das »La Vie« ist - Hand aufs Herz - ein Mafiarestaurant. Dort sind die übelsten Genossen zuhause. Man erkennt sie an ihren Krawatten, den maßgeschneiderten Anzügen und ihrem Geschwätz. Das Resto in der dunkelsten Ecke des Hafenviertels hat trotzdem einen ausgezeichneten Ruf. Denn dort wird angeblich die beste Küche gekocht, die das Universum zu bieten hat. Na, sagen wir: gepflegt, nicht gekocht.

Du trittst in den Tempel durch einen schmalen Gang, der wie ein Schlauch aus Menschen gesäumt ist von Trinkern und Rauchern. Sie nippen draußen in Frack und Zylinder ihre Cognacs und saugen an ihren Zigaretten; währendessen gleiten ihre Augen zu den Sternen, die über der nächtlichen Gasse funkeln. Die Kundschaft will das Draußen erleben, ohne sich wahrhaft vom Drinnen entfernen zu müssen, denn dort werden die Gläser aufgefüllt und die Mägen. Draußen hört man eher das Geflüster von ewiger Liebe und einmaligen Geschäften, je nachdem wer gerade mit wem dort spricht. Du drängst dich durch die Melange aus Lügen, Profit und verschwiegenen Handeln, und es beginnt, nach Kerzenwachs zu duften.

Die Tür geht auf. Der Maître beugt sich den neuen Gästen entgegen und schlägt sie, wie es hier gute Sitte ist, mit einem Klaps zum Ritter oder zur Dame. Sie vergeben dort Namen, die wohlklingend sind, denn das erste Gastrecht nomen non nominandum kürzt sich auf drei einfache N's. Man speist inkognito, doch gibt es keine Namenlosen; aber ebenso keinerlei Identität. Ich hörte Gäste sagen: »Wo sitze ich denn?« und der Maître antwortete lakonisch: »Wer sind Sie denn?« womit diese Frage gleich geklärt ist. Denn die Plätze sind beschriftet.

Der Name ist der Schlüssel zum Glück. Es ist nicht verkehrt, »Sir Lawrence MBE« zu sein oder »Seine Exzellenz von Sayn und Montechristo«. Wer als »Moritz Gabendiener« empfangen wird, täte gut daran, am Eingang die Richtung zu wechseln. Wie überall sind die Getränke teuer und die Speisen geschenkt. Doch hier ist diese Praxis wortwörtlich zu nehmen. Man isst nur nicht à la carte, man wählt und bekommt danach das, was einem zugedacht ist. Ein bisschen schwer verständlich, muss man begreifen, dass der Maître, der oberste der Geheimniskrämer an der Türwache, schon beim ersten Anblick des Gastes erraten hat, was ihm eignet, schmeckt oder einfach nur angemessen ist. Das passende Getränk dazu findet der Gast dann - mit Hilfe des Sommeliers selbstverständlich - selbst.

Was beispielsweise passt zum Hauptgang »Patience«? Die Auflösung beginnt auf: »viel« ..., denn Patience ist das Gericht, was wir dann bestellten. Es wird mit frischen Zutaten bereitet, während der Gast bereits im Resto sitzt. Und es erfordert, was der Name sagt. Gäste soll es gegeben haben, die unterwegs ihre Geduld verloren und in der Küche nach dem Rechten sehen gingen. Sie kamen nicht zurück. Denn die Küche ist heilig. Der Schankraum ist profan. Das ist das zweite Gebot im »La Vie«. Man darf nicht hinter die Kulissen gucken.

Das dritte, es gibt nur drei, hat mit der Abrechnung zu tun. Man zahlt, bevor man isst. Und zwar in Ratten. Es ist also angebracht, sich vor dem Gang in den Hafen die Taschen vollzustopfen mit jenem Getier, das in der Kanalisation groß wird. An jenem Abend dachte ich viel über die »frischen Zutaten« nach, von denen im »besten Restaurant des Universums« so gern die Rede ist, und die Frage, warum mein Essen ewig nicht kam. Die Schlüsse, die ich zog, sind nicht unbedingt ... hm ... appetitlich.