Kundus Zelt brennt

Kundu lebt im Paradies. Mit seiner Familie. Und Freunden. Sie haben es richtig gut. Sie haben es so gut, dass sie es kaum glauben können, wie gut sie es haben. Daher kursiert in Kundus Dorf ein Sprichwort: Euch geht es wohl zu gut. Immer wenn das passiert, dann passiert was, und diesmal ist es Kundus Zelt, das Feuer fängt. Genau gesagt, fängt es nicht einmal Feuer, nur das Feuer darin qualmt schrecklich vor sich hin, während alle schlafen.

Kundu ist der erste, der aus dem Halbschlaf erwacht und in seinem Dämmerzustand bemerkt, dass etwas nicht stimmen kann. Er sinkt jedoch wieder auf sein Lager, ermattet und vergiftet, wie er ist. Dabei lallt er etwas von Gefahr. Ein anderer lacht im Schlaf darüber. Beide träumen den selben Alptraum in diesem Zustand zwischen Hier und Dort: sie sind in einer anderen Welt, in der kein Feuer brennt und kein Qualm die Luft vergiftet. Sie sind in einer Welt, in der alles bestens und sie die großen Helden sind. Sie jagen im Nebelwald goldene Hirsche.

Doch Kundu gibt nicht auf. Im Nebelwald stammelt er: Hilfe, es brennt. Dort in dem Wald, in dem sie jagen und große Helden sind, sind auch die anderen Helden vielbeschäftigt. Sie stellen Fallen, töten, zerlegen und beherrschen die Welt. Als Kundu lallend erklärt, dass in Wirklichkeit die Hütte brennt, lachen sie gnädig und bauen sich - im Fiebertraum - einen Palast aus Stein und Marmor. Der kann nicht brennen. Und Kundu darf nicht rein. Denn im Marmorpalast will man nichts von Giften hören und von Bränden in der Wirklichkeit.

Kundu erwacht von Neuem und sieht sich träge in der Hütte um. Dort liegen wie Leichen die Krieger aus der Traumwelt herum und beginnen, langsam bläulich zu verfärben. Doch tragen sie alle ein stolzes Lächeln im Gesicht, als wollten sie sagen: stör' mich nicht. Kundu versucht, sich zu erheben, doch etwas hält ihn schwer zurück. Der Körper ist durch und durch verseucht mit giftigen Gasen. Benommen fällt er zu Boden und spürt im Traum, wie jemand - genau gesagt: drei Freunde ihn unsanft zu Boden werfen:

"Was soll das?" schreit ihm einer ins Ohr: "Wir haben hier einen Palast errichtet, in dem du Diener, Knecht, Soldat sein kannst. Du kannst essen und trinken und dein Tagewerk verrichten wie jedermann. Du kannst, wenn du dich bemühst, auch König werden wie jener dort. Du kannst fröhlich sein und dich vermehren, und höhere Mächte schenken dir alles das, was draußen ist. Mit etwas gutem Willen machst du dir das alles untertan." Kundu sagt: "Wir sterben."

"Wir alle sterben", antwortet der Mann, der Kundu niederdrückt, "irgendwann."
"Irgendwann ist jetzt", sagt Kundu. "Unser Zelt brennt."
"Das sieht nur so aus. Zelte brannten schon immer. Das hat noch keinen gestört."
"Wir werden sterben, wenn wir nicht aufwachen."
"Elender Pessimist. Wir haben hier so viel erreicht. Jetzt sollen wir das alles aufgeben?"
"Es ist nur ein Traum. Wir dämmern im Fieber ..."

Erneut erwacht Kundu und schleppt sich mühselig zum Feuer hin. Doch irgendwas hält seinen Fuß zurück. Kundu erreicht die Flammen nicht. Er nimmt nun seine ganze Kraft zusammen und fällt doch wieder in den Traum zurück. Dort hat man ihn in ein Verlies geworfen. Durch die Gitter der Tür hört Kundu von den Errungenschaften der Menschheit berichten. Man hat ein Katapult gebaut, mit dem sie Menschen auf den Mond befördern. Mit nämlichem Gerät werden auch Steine auf Feinde geworfen. Die Steine so groß, dass sie den Himmel verdunkeln. Die Feinde sind, da richtige fehlen, zunächst mal solche, die nicht an die Macht der Träume glauben wollen. Solche wie Kundu.

Der schlägt sich laufend ins Gesicht und vermag doch nicht, den Traum beenden. Zu giftig der Dampf in den Lungen des Mannes, der im Jenseits schläft. Er blickt durch die Gitterstäbe des Palastes ins Freie. Dort sind sie alle blau. Blau ist die neue Modefarbe. Und es ist cool, cool zu sein. Die Menschen gleichen wandelnden Leichen. Und die Sonne verdüstert sich. Blaue Schwaden ziehen über den Himmel, und der Palast wird von kleinen blauen Termiten zerfressen. Dahinter kommt eine fadenscheinige Wirklichkeit zum Vorschein ...

... und in der liegt Kundu nun halbwach neben dem qualmenden Feuer und erreicht es nicht. Weil jemand ihn am Bein festhält. Kundu erblickt den Zelteingang. Er sieht dort draußen den Sternenhimmel. Er blickt zurück zur Hand, die ihn gefangen hält. Er spürt, wie sie langsam kraftlos wird. Er weiß, es reicht nur noch für jene Schritte. Das Feuer zu löschen, ist es zu spät. Du kannst, wenn du alle Kraft zusammen nimmst ...

Und dann schleppt er sich mit letzter Mühe zum Zelt hinaus und überlebt. Als einziger die Katastrophe. Die anderen sind blau und glücklich. Und tot. Und das Feuer brennt munter.