Zeitlos V

Joe ist Biker. Einer von den harten Jungs. Seine Maschine steht vor der Buchhandlung. Joe hatte sein Comeout als Leser schon bevor er anfing, Knochen zu brechen, und lange, bevor diese Gabe zu seinem Haupterwerb wurde. Lina war daran Schuld. Lina arbeitet nicht mehr in der Buchhandlung, aber der alte Claas-Jansen hat den Ledermann in sein Herz geschlossen. Er sorgt für das Wohlergehen seiner gepeinigten Seele. Heute scheint er das mit Jack Kerouac zu probieren. On the Road Again ist das Stichwort des Tages. Ich frage Joe, was er in Sachen Reifen im Angebot hat. Es ist ein guter Aufhänger, um ihm von meinen Problemen zu erzählen, ohne sie erwähnen zu müssen. Joe kennt alle Probleme. Wahrscheinlich liest er deshalb so gern, um sich darüber zu informieren, was andere Menschen für große Probleme halten. Schriftsteller zum Beispiel. Ich habe selbst schon geschrieben, und bin deshalb ein interessantes Exemplar der Weltfremdheit für ihn. Schriftsteller wissen oft nicht, wohin mit sich selbst. Das kennt Joe. Wir reden über Kerouac. Angeblich hat er seinen Roman ohne Punkt und Komma auf einer Tapete geschrieben. Ein Getriebener. So jemand braucht Reifen mit einem harten Profil. Am besten was Abgelagertes. Joe empfiehlt mir Michelin. Als Kenner der Szene weiß er, dass die Reifen aus Frankreich kommen, Clermont-Ferrand. Das wäre seine erste Wahl. In Sachen Bereifung liegt Joe im Ansatz gut, doch der Ort hat ja erklärtermaßen für mich eine Vorgeschichte. Weshalb ich gleich auch in Alternativen denke. Joe baut meine Zweifel aus. Er verbindet seine Bedenken mit einem heißen Tip, wie man sie umgehen kann. Sein Workaround jedoch sei illegal. Damit kommt die Sache ins Wanken. Wenn ich mir die harten französischen Gummis draufziehe, dann darf meine Maschine nämlich nicht über 160 fahren. Ich sage ihm, das sei in Frankreich kein Problem. Man kann dort ohnehin nicht schneller. Es ist allerdings so eine Sache mit dem Gesetz. Dürfen und Können ist nämlich im Gesetz eine philosophische Frage. Damit sind wir beim zweiten Kaffee und plaudern wieder über Kerouac und die Weite der Straße, die nach uns ruft. Beim dritten Espresso kommt Joe mit der bitteren Wahrheit raus: meine Maschine ist für mehr als 160 zugelassen, also darf ich die Reifen nicht montieren. Es sei denn, ich will den Behörden einen Grund dafür geben, was sie ohnehin schon wollen, mich festzusetzen. Wir entscheiden uns also für die Balance der Kräfte. Es ist ein Stollenreifen mit guten Abrolleigenschaften. Der geht auch im Gelände sehr gut. Er wird ihn mir montieren. Das Gespräch findet an der Kaffeemaschine von Claas-Jansen statt, also ist der Buchhändler auch mit einem Ohr beteiligt. Er kennt sich mit Reifen nicht aus, aber mit Kaffeebohnen. Die Grundlage am Genuss ist, es nicht zu übertreiben. Das ist vielleicht das Manko am Kerouac. Man ist froh, wenn man aus dem Buch wieder raus ist. So wie aus Problemen, die man nicht lösen kann. Das Gute an Büchern ist, dass man sie ins Regal stellen kann, wenn es zu viel wird. Mit Kerouac kann man das nicht. Den muss man genauso lesen, wie er geschrieben ist, in einem Zug. Joe sagt: heute nachmittag. Man kann sich dann noch vorher mit ein paar Eiern aus der Pfanne stärken. So gehen wir auseinander. Ich zahle sein Buch, er wird mir seine strapazierte Geduld mit neuen Reifen heimzahlen. Claas-Jansen wird mich auch mögen, wenn ich der Justiz doch noch ins Netz ginge. Wir sind ein gutes Team. Schade, dass ich schon bald gehen muss. Wohin auch immer. Afrika vielleicht. Oder erst mal in Portugal dazu Anlauf nehmen?