letzte Garantie

Ich gehe also zum Arzt, und er sagt mir: Wenn Sie so weiter machen, haben Sie noch maximal drei Monate. Können Sie mir das garantieren? frage ich ihn. Und jetzt wird er ruhig. Gut, ich war zwanzig Jahre lang nicht beim Arzt. Ich hasse Ärzte. Nun auch wieder nicht generell. Die Kleine vom Französischkurs ist auch Ärztin. Also, die hasse ich ganz sicher nicht. Vielleicht umgekehrt. Ich bin kein Arzttyp. Medizin ist der moderne Hokuspokus. Für mich. Andere denken anders. Ich hasse den Gedanken, am Montag Morgen in der Blüte meines Lebens auf einem Plastikstuhl zu sitzen, die ADAC-Motorwelt durchzublättern und das Husten und Röcheln der dicken Frauen und ihrer dürren Männer zu analysieren. Es stinkt nach Bazillen. Kindern läuft der Rotz aus der Nase. Sie kennen den Unterschied zwischen Laryngitis und Meningitis, wissen aber noch nicht, wie man Spielplatz schreibt. Immer noch schweigt Doktor Haase zu meinem Entwurf. Sagen Sie mir sicher, dass ich in drei Monaten fertig bin, dann kündige ich die Versicherungen und mache in Frankreich einen drauf. Selbstverständlich mache ich so weiter mit Tabak, Alkohol und Frauen, wir wollen doch nicht, dass es zu spontanen Rezessionen kommt. Und am Ende stehen wir wieder am Anfang. Er starrt mich an über seinem weißen Flugzeugträger von einem Schreibtisch. Nein, eigentlich starrt er auf einen Punkt dahinter. Seine Kinder haben Bilder gemalt. Alle große Künstler. Ich wäre zu feige, sowas an die Wand zu hängen. Adelt ihn. Hinter mir also die Zukunft der Welt im Reich der Phantasie, davor Resopal und dazwischen diese Frage. Können Sie mir das garantieren? Nein, sagt er. Eine Verzweiflung in der Stimme, als stünde er mit einem ungedeckten Scheck am Bankschalter des Lebens. Er kann nichts garantieren. Nicht dies und nicht jenes, schon garnicht das Gegenteil. Er kann in diesem Moment nicht einmal sagen, was ihn von mir unterscheidet. Warum sitzt er auf dieser Seite des Behandlungsraums und ich auf jener? Muss ein Zufall sein wie Schuh- und Kleidergröße. Garantieren? Oh

Und dann fasst er sich endlich an der beruflichen Ehre und fragt schlau: Wollen Sie etwa sterben? Mit einem betonten Wollen, als gäbe es auf dieser Welt nichts als den menschlichen Willen, dem alles unterworfen sei. WOLLEN Sie etwa sterben? Ich denke an die Kunst in meinem Rücken und frage: Sie etwa nicht? Noch immer glaubt er an suizidale Tendenzen, die man, wenn auch schwer, behandeln kann. Also an die medizinische Unsterblichkeit. Wer nicht sterben will, der will auch nicht leben, sage ich so hin. Könnte von diesem Schwätzer stammen, Oscar. Oskar heißt auch Haase, wenn jemand sein Praxisschild entziffern will. Dr. O. Haase. Allgemeinmedizin. Ich erzähle ihm Haase, wie schwer es im Alter fällt, zweihundert Kilometer am Stück Rad zu fahren. Und das mit Whisky im Kopf. Es hält ihn davon ab, weitere Fragen zu seinem EKG zu stellen. Der Apparat analysiert in erster Linie sich selbst. Könnte dreißig Jahre alt sein. Ja, die Sache mit den Zigarren fällt mir auch immer schwerer. Drei am Tag auf Lunge, da hustet man Morgens ab. Vielleicht werde ich irgendwann aufgeben müssen und das Rauchen lassen, essen, trinken und alles andere. Aber unsterblich dank Aspirin und Co.? Da kannst du ja vor lauter Rücken den Amboss nicht mehr durch die Werkstatt tragen! Legere 120 Kilogramm. Irgendwo muss auch mal ein Punkt … Burnout, konstatiert er mit Wonne. Fast meint man, den letzten Ausweg eines Dilemmas zu erkennen. Ist Dilemma der Plural von Dilemmon, frage ich interessehalber. Haase schraubt an seiner Diagnosesoftware. Immer kommen Produkte einer bevorzugten Firma heraus. Einnehmen - gesund. Ich gucke auf die Uhr. Zehn-zwölf: Schiedsrichter nach torloser Überspielzeit ins Elfmeterschießen. Burnout was? frage ich, und bin noch bei stacheligem Schmiedewerkzeug. Burnout Syndrom? Also das zweitälteste Kind in der Familie, in der das jüngste ADHS heißen soll. Oder war es PTBS?

Jetzt guckt Doktor Haase auf die Uhr. Der Igel ist schon am Mal. Mist, und die Kassenabrechnung schon wieder zum Teufel. Der Montag schleicht dahin. Und dieser Patient will nicht passieren. Kann ich Sie, versucht Haase schließlich die Situation zu retten, für eine Woche krank schreiben? KRANK SCHREIBEN? So wie ein Schriftsteller seine Hauptfigur? Äußerst günstiges Angebot für einen, der nur noch drei Monate zu leben hat. Oder zwei? Bietet er an. Zu seiner eigenen Entlastung möglicherweise auch drei. Aber nur … und ich blicke ihm tief ins Auge und frage: mit Garantie?