Urvertrauen

Der Martin. Der Martin ist ein Guter. Bisschen naiv, aber sonst ein rundum guter Kerl. Der Martin hatte ein paar Probleme. Deshalb schickten sie ihn zu dem Seminar. Das muss ein Donnerstag gewesen sein: Urvertrauen. Meine Erinnerung trügt manchmal, aber ich glaube, es war Bernd, den sie zum Spaß schon mal "das Brot" nennen, Bernd erklärt für gewöhnlich, wie es geht, also wird er es wohl auch an diesem Donnerstag getan haben. Ich habe das Ganze nur einmal miterlebt, deshalb will ich mich nicht festlegen. Mag auch etwas anders abgelaufen sein, aber im Großen und Ganzen war das wohl ein Missverständnis.

Bernd erklärt also, wie es geht: Da steht ein Stuhl im Raum und die Teilnehmer drumherum. Und jemand ist an der Musik. Die kommt aus einer Anlage, und man kann sich den Titel selbst aussuchen. Also Martin. Martin sucht sich einen Titel aus: Born to be wild. Er steigt auf den Stuhl. Bernd hält die Augenbinde. "Ich verbinde dir jetzt die Augen", sagt Bernd zu Martin, "dann drehen wir dich ein paar Mal im Kreis. Du musst aufpassen, dass du schön vorsichtig auf der Stelle trittst. Dann lassen wir dich los und du bleibst da oben. Verstanden?"

Martin nickt. Ich sehe ihn lachen, so richtig goldig, weil es eine Art Sozioevent ist, Rückflug in die Achtziger: Wir üben Urvertrauen. Martin nickt, zwanzig Augen auf dem Stuhl, Natalie tanzt auf der Stelle, als wäre sie high, Bernd hebt die Augenbinde und erklärt weiter: "Du bleibst da oben, bis ich die Musik ausschalte. Dann lässt du dich rückwärts fallen, und wir fangen dich auf, verstanden?" Und Martin lacht so schön, so goldig, der ist wirklich ein Guter. Ja, und dann haben sie ihm die Augen verbunden. Und ihn im Kreis rumgedreht, und die Musik laufen lassen.

Und ich hatte draußen was zu tun. Die Kaffeemaschine ging nicht. Hatte wohl lange keiner sauber gemacht. Ich schraube also an dem Gerät, als Natalie andackelt und mich nach einer Fluppe fragt. Bernd reicht ihr eine von seinen: "Ich glaube, der steht auf dich." sagt er zu ihr. Und sie fragt: "Wer?"

Bernd schmeißt seinen Kopf auf die linke Schulter in Richtung des Gruppenraums: "Martin. Der hat ja von seinem Stuhl herunter geschmachtet wie ein ..."

"Sehe ich genauso", sagt Trinie und stopft sich auf der Suche nach einem Feuerzeug eine Selbstgedrehte zwischen die Lippen. Ihr Mec ist auf der Suche nach Kaffee, und ich muss ihm erklären, dass die Maschine immer noch nicht richtig rund läuft. So alles in allem warten da mittlerweile zehn trockene Mägen nach heißem Koffein, und der Qualm der Zigaretten verdüstert die Veranda. Jemand öffnet ein Fenster, als drinnen, ja - stimmt - daran hat jetzt auch wirklich keiner gedacht, drinnen im Gemeinschaftsraum die Musik ausgeht.

Und dann ein lauter Knall.

Biggi reißt die Tür auf und schiebt sich die flache Hand vor den Mund. Dann Lars, dann Bernd, Natalie, nach einander tropfen sie in die Stille des Gruppenraums. Ich bleibe als einziger an der Kaffeemaschine und bemerke diesen bitteren Geruch im Zigarettenqualm. Riecht wie ein Kurzschluss. "Wie ein Kurzschluss?? Wie riecht denn ...?"

Im Gemeinschaftsraum jedenfalls Stille und das Geratsche von Feuerzeugen. Dann flackern dort Lichtlein und im Schimmer hört man Geister spekulieren über ausgekugelte Schultern und Prellungen, die schnell wieder heilen. Und Bernd kommt aufgeregt anmarschiert: "Ich hab doch gesagt: Wenn ICH die Musik ausschalte, nicht wenn DIE MUSIK AUFHÖRT ... Warum hört mir denn keiner zu?"