Kulissengefühle

Kennen Sie das? Man möchte einem Freund eine eMail schreiben, doch die Adresse ist weg, denn der Computer hat ein Softwareproblem. Nichts großes, nur dass irgendein Treiber nicht mehr aktuell war, als das System sich upgedatet hat. Und nun geht gar nichts mehr; die Scheibe bleibt dunkel, Hieroglyphen wandern spiegelverkehrt den Bildschirm lang, und man denkt darüber nach, die alte Kiste durch eine neue zu ersetzen.

Und da liegt der harmlose Auslöser einer ausgewachsenen Krise, die ins Existentielle ragt, wenn man nur genau genug hin sieht. Denn es stellt sich die Frage ein, wofür dieser Computer denn eigentlich einmal angeschafft worden ist. Als Provisorium, soviel ist klar. Aber, um was zu erledigen? Das dann wieviele Jahre Provisorium blieb, bis in Vergessenheit geriet, was es eigentlich war. Um Himmels willen, fünfzehn Jahre!

Mir fällt die Geschichte von dem Marathonläufer ein, der hart trainiert und sich mental vorbereitet hat, um endlich am Wettkampf teilzunehmen; und noch während er am Sportplatz nach der Umkleide sucht, fragt er sich: war es Marathon oder Hürdenlauf oder Zehnkampf, was ich hier wollte? Und - ehm - wozu im Kreis rumlaufen?

Er verirrt sich in die falsche Kabine, die Tür fällt zu, er vergegenwärtigt, dass ihm seine Sporttasche fehlt. Darin das Handy, mit dem er Hilfe holen und sich befreien könnte. Als er nun nach Werkzeug sucht, um sein Gefängnis zu verlassen, beschädigt er einen Heizkörper, aus dem Wasser ausläuft, weshalb er nun zu reparieren beginnt, sich dabei verletzt und die Verletzung mit einem Handtuch notdürftig behandelt, dabei ein Fenster entdeckt, durch das er ins Freie gelangen könnte, wäre ihm nicht längst entfallen, was er da soll, denn jetzt erst wird ihm klar, dass er sich beim Sturz auf diese Heizung eine Gehirnerschütterung zugezogen hat, und überhaupt fragt sich ... was eigentlich?

Was tust du hier? Ist die Sache mit dem Marathon nicht ein irrer Alptraum? Du läufst doch gar nicht!

Kulissengefühle sind grauenvoll, denn sie sind ein Flashback eines Rausches, der nie stattgefunden hat. Die biestigen Aussetzer eines Alkoholikers, der von Geburt an trocken war. Dicker Kopf ohne voraufgegangene Party. Die ewige Vorbereitung auf etwas, das nie kommt, weil man es auf dem Weg vergessen hat. Denn sie zwingen einen in die Beobachterposition. Man schaut sich um und fragt sich: in welchem Film bist du? Was wird da gespielt? Und welche Nebenrolle hat man dir zugedacht? Fragen, die man möglicherweise fünfzehn Jahre lang verdrängen kann, weil man ja glaubt, man wäre auf dem richtigen Weg. Nämlich seinem.

Nur auf welchem ist man, und auf wessen?

Nachdenklichkeit über das Datum. Es ist der Geburtstag eines Menschen, der seit fünfzehn Jahren nicht mehr lebt, und immer noch denkt man, er wäre irgendwo anders. Genauso wie der Computer wohl irgendwo anders ist, wenn seine Treiber nicht funktionieren, denn er tut ja was, nur eben nicht mit einem reden. Wenn das Leben einem nun zeigen wollte, dass es nicht den leisesten Hauch einer Veranlassung hätte, Ziele real werden zu lassen, was sagt das dann über die Zukunft aus?

Zeitrahmen schrumpfen und dehnen sich wie Hefeteig je nach Temperatur, Feuchtigkeit und Größe der Schüssel. Man betrachtet die Mitteilungsblättchen, in denen die Hundertjährigen der Woche aufgelistet werden, und fragt sich, wie viel heute noch ein Jahr im Vergleich zu dem eines Menschen im Mittelalter beträgt. An gefühlter Chill-Zeit. Wieviel ist das im Vergleich zu der Zeit, die man offline verbringen muss, weil der Computer nicht geht? Und wieviel Lebensechtzeit geht verloren, WENN er wieder einwandfrei läuft? Und wen bringt das weiter? Und wohin?

Und warum ist der eine schon vor Erreichen der Hundertergrenze gestorben, und der Computer geht immer noch nicht?

Manchmal wünscht man sich eine felsenfeste Orientierung. Je nach mentaler Verfassung schon in der Jugend gesetzt: mit achtzehn Papa, zwanzig verheiratet, dreißig in der eigenen Firma, vierzig Herzinfarkt und fünfzig Vorsitzender des Fussballvereins. Dann kann man mit sechzig kontrollieren, wo man steht. Aber wie, wenn das Betriebssystem die Treiber nicht hat? Möglicherweise eine nautische Frage.